Thüring AG: Von der Klotzware zum Fertigprodukt
Lina Schmid
Als es die grossen Einrichtungshäuser noch nicht gab, liess man sich Möbel von Hand schreinern. Dies erzählt uns Günther Kleiber, Geschäftsleiter der Thüring AG, bei unserem Gespräch am 5. Juni 2020. In der Generation seiner Eltern, so Kleiber, sei es noch gang und gäbe gewesen, dass man sich auf die Hochzeit Möbel anfertigen liess, die man ein Leben lang hatte. Heute kaufe man in der IKEA den passenden Schrank für die gerade aktuelle Wohnsituation. Beim Wohnungswechsel werden diese «Möbel ab der Stange» oft ausgetauscht. Die Industrialisierung der Möbelproduktion und das sich wandelnde Konsumverhalten beeinflussten nicht nur die Arbeit des Schreiners, sondern auch die Ausrichtung der Holzhandelsfirma Thüring AG. Günther Kleibers Vorgänger, Markus Salomon, reiste noch persönlich zu Sägereien im Emmental, in Deutschland und Österreich und ging Bäume einkaufen. Teilweise kamen sogar die Endkunden mit, damit das passende Holz ausgesucht werden konnte. Kleiber erinnert sich an die Anekdoten seiner Vorgänger, die Pralinés für die Ehefrau des Sägers mitnahmen. Im damaligen Verkäufermarkt war das Angebot begrenzt und gutes Holz begehrt. Die Angestellten der Thüring AG mussten deshalb ihre Kontakte zu den Sägereien pflegen, um die Klotzware wenn überhaupt zu einem günstigen Preis zu erhalten. Nachdem der Baum nämlich aufgeschnitten war, verhandelten und definierten die Säger mit den Mitarbeitern der Thüring AG die Länge und Breite sowie den entsprechenden Preis der Holzware. Die Kontakte zwischen den Sägereien, den Handelsfirmen und den Endkunden waren also viel enger – heute kauft bis auf eine Handvoll Schreiner kaum noch jemand Klotzware, geschweige denn einen ganzen Baumstamm. Obwohl man immer noch mit einigen Sägereien zusammenarbeitet, werden heute vorwiegend Halbfertig- und Fertigprodukte eingekauft. Dazu gehören Holzwerkstoffe wie Grobspanplatten, Dreischichtplatten, Türen, diverse Parkette, Isolations- und Baumaterialien. Schreinerinnen und Zimmerleute beziehen die Produkte direkt bei der Thüring AG, und die Kunden haben nur noch in einzelnen Bereichen den Anspruch, die Ware vorher in Augenschein zu nehmen. Obwohl in den letzten Jahren ein gestiegenes Qualitätsbewusstsein vonseiten der Kundschaft spürbar wurde, hat sich das Angebot der Firma Thüring in unserer Konsumgesellschaft stark verändert. Dem Werkstoff Holz bleibt die Handelsfirma allerdings seit 122 Jahren treu.
Geschichte der Thüring AG
Im Jahr 1898 gründete Richard Brodmann eine Holzhandelsfirma und ging kurz darauf eine Kollektivgemeinschaft mit dem zukünftigen Papierfabrikanten Otto Erzer-Furrer ein. Die beiden liessen 1901 ein Lager auf dem Dreispitz errichten und gehörten somit zu denjenigen Firmen, die sich bereits vor der Inbetriebnahme der öffentlichen Materiallagerplätze auf dem Dreispitz einmieteten. 1904 stieg Otto Erzer-Furrers Schwiegersohn, der zukünftige Inhaber Isidor Thüring, als Buchhalter in den Betrieb ein. In der Folge gab es einige Namensänderungen, bis Isidor Thüring 1923 schliesslich die Aktiengesellschaft Thüring & Cie. AG gründete. Die 1901 erbauten Lagerhallen an der Dornacherstrasse wurden damals aufgegeben und die Firma zog an die Reinacherstrasse 111, wo sie fast ein Jahrhundert lang blieb. Neben dem Wohnhaus, welches heute noch steht, wurden Stallungen für rund zehn Pferde erbaut. Die Auslieferung der Ware erfolgte nämlich bis 1928, als der erste Lastwagen gekauft wurde, mit Pferdefuhrwerken und Anhängern mit Eisenreifen.
Das 1918 erbaute Wohnhaus an der Reinacherstrasse 111 wurde zuerst vom Platzmeister Weisser-Ehmann und seiner Frau und später vom langjährigen Mitarbeiter Marius Salomon bewohnt. (Foto aus dem Privatbesitz der Thüring AG aus dem Jahr 1947)
Obwohl die Gebäude der Thüring AG 2019 abgerissen wurden, blieb das Wohnhaus bestehen. (Foto: Daniel Spehr, 2015)
Im Jahr 1935/36 sank der Jahresumsatz aufgrund der Wirtschafts- und Baukrise auf ein Rekordtief. Auch waren Holzeinfuhren nur über bewilligte Kontingente möglich. Die Situation verschärfte sich weiter, als nach Kriegsausbruch im September 1939 fast das gesamte Personal sofort einrücken musste und Lastwagen und Traktoren sequestriert wurden. Die verbliebenen Aufträge führten nun Hilfsarbeiter oder Isidor Thüring selbst aus. In den Kriegsjahren hielten die vielen Bestellungen des Militärs die Firma über Wasser, etwa das für den Bau von Militärbaracken benötigte Holz. Das Kriegsende im Mai 1945 signalisierte einen Neustart. Mit dem Beginn der grossen Bautätigkeit infolge der Wohnungsnot stiegen die Umsätze wieder, und die 50er-Jahre waren geprägt von guten Geschäftsergebnissen. 1959 verstarb der langjährige Inhaber Isidor Thüring im Alter von 83 Jahren. Nach Abschluss der Erbschaftsangelegenheiten wurde sein guter Freund Dr. Felix Emmanuel Iselin in den Verwaltungsrat gewählt. Der bekannte Basler Anwalt und Notar trug massgeblich dazu bei, dass der Betrieb weitergeführt werden konnte. Bis in die 70er-Jahre verlief das Geschäft weiterhin gut, und es wurden zwei neue Hallen gebaut, welche der Lagerung von Paletten für Gips und von anderen Produkten dienten. 1972 erreichte die Firma Thüring den bisherigen Höchstumsatz, 1973 brachte der Erdölschock das Ende der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Das Jahr 1975 ging als «Katastrophenjahr» in die Firmengeschichte ein. Kaum hatte sie einen Generationenwechsel in der Geschäftsleitung über die Bühne gebracht, war die Thüring AG mit der nächsten Herausforderung konfrontiert: In der Nacht vom 15. auf den 16. August 1975 stand die vordere Lagerhalle in Flammen.
In der Nacht vom 15. auf den 16. August 1975 brach an der Reinacherstrasse 111 ein Grossbrand aus. (Foto aus dem Privatbesitz der Thüring AG aus dem Jahr 1975)
In einem kleinen Wagenschuppen wurde ein Feuer gelegt, welches fast die Hälfte der Lagerhallen der Thüring AG zerstörte. (Foto aus dem Privatbesitz der Thüring AG aus dem Jahr 1975)
Zeitungsartikel vom Montag 18. August 1975 zum Grossbrand in der Thüring AG. (Privatsammlung der Thüring AG)
Fast die Hälfte der mit Ware gefüllten Lagerhalle, sowie der eben erworbene Kranwagen wurden durch den Brand zerstört. Der nachweislich durch Brandstiftung verursachte Schaden wurde zwar von der Versicherung gedeckt, doch damit war die Reihe von Katastrophen noch nicht abgeschlossen. Im selben Jahr fiel der Umsatz aufgrund der schwachen Wirtschaft gegenüber dem Vorjahr um fast 45 Prozent. Um aus dieser Krise herauszufinden, musste die Thüring AG ihren Personalbestand drastisch reduzieren. Erst zwei Jahre später ging es wieder bergauf, als der Hallen-Neubau eingeweiht werden konnte und die Rezession langsam abflachte. Auch der Bauboom in den beiden Basler Halbkantonen trug zur wirtschaftlichen Erholung des Unternehmens bei. In den 80er-Jahren stieg der Umsatz wieder auf Rekordhöhe an. Da in dieser Zeit Rohware vermehrt durch Fertigwerkstoffe ersetzt wurde, musste die Thüring AG ihr Handelsgeschäft neu ausrichten und eröffnete 1994 ihren Ausstellungsraum «Holz + Bau Forum» am Leimgrubenweg. Anstelle von Rohwaren wurden hier erstmals Halbfertig- und Fertigfabrikate ausgestellt und zum Verkauf angeboten; seit einigen Jahren sind es vor allem Bodenbeläge. Nach knapp 100 Jahren an der Reinacherstrasse 111 verlegte die Firma Thüring 2019 ihren Sitz an die Mailand-Strasse 32, wo sich nun nicht nur das Lager und die Büroräumlichkeiten, sondern auch der Ausstellungsraum befinden.
Der Neubau an der Mailand-Strasse 32 wurde 2018 realisiert. (Foto aus der Privatsammlung der Thüring AG)
Auch der Ausstellungsraum Holz + Bau Forum befindet sich nun am neuen Standort. (Foto aus der Privatsammlung der Thüring AG)
Vom Pferd zum LKW und vom «Hölzeln» zum Stapler – 120 Jahre Thüring AG auf dem Dreispitz
Seit mehr als 120 Jahren bleibt die Thüring AG nicht nur dem Handel mit Holz treu, sondern auch ihrem Standort. Als die Firma vor knapp drei Jahren ihren Umzug plante, war für die Geschäftsleitung – René Schönenberger und Günther Kleiber – klar, dass man auf dem Dreispitz bleiben will. Stadtnähe und verkehrstechnische Erschliessung bringen die Kunden schnell vor Ort und ermöglichen ihnen, die Ware innert kürzester Zeit selbst abzuholen. Dabei war das Argument des Verkehrsanschlusses bereits vor über 100 Jahren ausschlaggebend. Die Materiallagerplätze auf dem Dreispitz verfügten alle über einen Bahnanschluss, was den Transport vom Güterbahnhof Wolf auf den Lagerplatz erheblich erleichterte. Das Holz kam von den Sägereien also über den Güterbahnhof direkt auf den Dreispitz und wurde dort gelagert. Die schriftlich oder später telefonisch bestellte Ware wurde anschliessend mit Fuhrwagen ausgeliefert. Der Kauf des ersten Lastwagens und der Verkauf der Pferdegespanne markierte schliesslich laut dem 100-jährigen Jubiläumsbericht der Thüring AG den Beginn der «hektischen und unschönen Zeit». Die Stallungen wurden zu Garagen umfunktioniert und Traktoren sowie LKWs ersetzten die Fuhrwerke. Doch man hielt an Lieferungen über die Schiene noch lange Zeit fest: Sofern die Sägerei einen Bahnanschluss hatte, konnte das Holz problemlos per Bahn geliefert werden. Dagegen bedeutete das manuelle Abladen und Wiederaufladen der Ware auf Lastwagen einen viel grösseren Aufwand. Die Auslieferung der Ware wurde durch motorisierte Fahrzeuge vereinfacht. Aber es dauerte nochmals gut 40 Jahre, bis die Firma Thüring ihren ersten Stapler erwarb. Bis dahin wurden Taglöhner, welche sich im Restaurant Viertelkreis gegenüber aufhielten, eingesetzt, um das Holz abzuladen und es anschliessend zu «hölzeln». Das Hölzeln musste von Hand erfolgen. Dabei wurden zwischen die einzelnen Bretter Zwischenriemen gelegt, damit die Luft zirkulieren konnte und das Holz nicht schimmelte.
Eine Gruppe von Taglöhnern vor den «gehölzelten» Stapeln an der Reinacherstrasse 111
Eine Gruppe von Taglöhnern vor den «gehölzelten» Stapeln an der Reinacherstrasse 111
Erst in den 1970er-Jahren ersetzte dann der Stapler die Arbeitskraft der Taglöhner und ermöglichte eine neue, effizientere Lagerung. Zusätzlich wurden die Arbeitsabläufe dadurch erleichtert, dass vielen Kunden die Ware nicht mehr geliefert werden musste, weil diese das Material selbst abholten. Heute sind Kunden darauf angewiesen, dass Baumaterialien und Werkstoffe kurzfristig verfügbar und abholbereit sind – häufig von ihnen selbst und direkt mit dem eigenen Auto. Hier ist, so Kleiber, auch die Lage der Thüring AG von Vorteil. Rund 60 bis 70 Prozent der Kunden kommen aus einem Radius von 10 km und sparen Zeit, wenn sie ihr Material nicht in der weiteren Agglomeration holen müssen. Diese Entwicklungen hatten einen enormen Einfluss auf die Personalzusammensetzung der Firma. Arbeiteten in den 60er-Jahren noch 25 bis 30 Leute im Lager, so sind es heute noch vier. Dafür setzt die Firma heute auf eine ausführliche Beratung, um die Kunden durch die Produktevielfalt hindurchzuführen. Kundenpflege wird in der Thüring AG nach wie vor grossgeschrieben – auch wenn hierfür keine Pralinen mehr verschenkt werden.
Günther Kleiber, Thüring AG (Foto: Daniel Spehr 2020)
Günther Kleiber, *1967, aus Liestal, stieg 1990 als Buchhalter in die Thüring AG ein. Er übernahm diverse Aufgaben im Personalwesen, im Versicherungswesen und in der Logistik, bis er 2009 im Sinne der Nachfolgeregelung gemeinsam mit Rene Schönenberger die Geschäftsleitung übernahm.
Das Gespräch fand am 5. Juni 2020 im Neubau der Thüring AG an der Mailand-Strasse 32 statt.